Pharmafirma entschuldigt sich nach über 50 Jahren: Contergan-Opfer lehnen Grünenthal-Entschuldigung ab
Zu wenig, zu spät und verlogen obendrein: Die Entschuldigung des Contergan-Herstellers Grünenthal stößt bei den Opfern auf massive Kritik. Viele streiten noch ein halbes Jahrhundert nach dem Medizinskandal um finanzielle Entschädigung.
„Wir erwarten Taten, und wenn diese Taten nicht folgen, dann bleibt dies nur eine leere Hülse und ein PR-Gag“, sagte die Sprecherin des Bundesverbands Contergangeschädigter am Samstag. Auch Opfervertreter in Großbritannien, Japan und Australien wiesen die Grünenthal-Erklärung als unzureichend zurück. Der Bundesverband nehme „diese menschliche Rede zur Kenntnis“, sagte Sprecherin Ilonka Stebritz mit Blick auf die Äußerungen von Grünenthal-Chef Harald Stock vom Vortag. Zugleich wies sie darauf hin, dass sich das Pharmaunternehmen nicht für die Einführung des Medikaments vor rund 50 Jahren entschuldigt habe.
Stock hatte am Freitag bei der Einweihung eines Contergan-Denkmals in Stolberg erstmals bei den Betroffenen um Entschuldigung gebeten. „Wir bitten um Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben“, sagte er. Das jahrzehntelange Schweigen des Pharmakonzerns sei „als Zeichen der stummen Erschütterung zu sehen“, die das Schicksal der Opfer bei dem Unternehmen bewirkt habe.
In Deutschland war das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan von 1957 bis 1961 rezeptfrei vertrieben worden, es wurde auch von vielen Schwangeren genommen. Der Wirkstoff Thalidomid führte weltweit bei schätzungsweise 10 000 Kindern zu schwerwiegenden Fehlbildungen der Gliedmaßen. Neben Deutschland leben die meisten Opfer in Großbritannien, Japan, Kanada und Australien.
Australische Opferanwälte finden die Entschuldigung „erbärmlich“
Auch aus diesen Ländern kam am Samstag scharfe Kritik an der Entschuldigung von Grünenthal. „Wir denken, dass eine echte und aufrichtige Entschuldigung eine ist, die ein tatsächliches Fehlverhalten einräumt“, sagte das britische Contergan-Opfer Nick Dobrik dem Sender BBC. Dies habe Grünenthal nicht getan. Der Chef des britischen Contergan-Opferverbands, Freddy Astbury, der ohne Arme und Beine auf die Welt kam, forderte eine finanzielle Entschädigung für die Opfer.
Anwälte australischer Opfer nannten die Entschuldigung „erbärmlich“. „Sie ist zu wenig, zu spät und durchsetzt mit weiterer Falschheit“, erklärten die Anwälte der Australierin Lynette Rowe. Das lange Schweigen mit einer „stummen Erschütterung“ des Unternehmens zu begründen, sei „beleidigender Unsinn“. Der Konzern habe 50 Jahre lang versucht, die moralischen, juristischen und finanziellen Konsequenzen des Skandals zu umgehen.
Die australischen Opfer warfen Grünenthal-Chef Harald Stock Heuchelei vor. Das Unternehmen hat sich dort bislang einer Klage von Opfern widersetzt. Der Fall kommt nächstes Jahr vor das oberste Gericht im Bundesstaat Victoria. Die Anwaltsfirma Slater and Gordon Lawyers in Melbourne hatte in diesem Jahr mehrere Millionen Dollar für rund 130 Geschädigte erstritten, allerdings nicht von Grünenthal, sondern von dem Vertreiber des Medikaments in Australien. Grünenthal argumentierte, die Contergangeschädigten müssten in Deutschland prozessieren.
Britischer Contergangeschädigter: „Von der Firma beleidigt“
Auch Martin Johnson, Direktor der Stiftung Thalidomide, warf Grünenthal vor, das Unternehmen versuche weiter, den Mythos aufrechtzuerhalten, niemand habe wissen können, welche Schäden das Medikament anrichten könne. Das aber sei nicht richtig. Contergan war in Großbritannien unter dem Namen Thalidomide verkauft worden.
Freddie Astbury von Thalodomide UK forderte, es müsse endlich eine offene Diskussion über Entschädigungszahlungen geben. Contergan-Opfer Nick Dobrik sagte: „Wir sind der Meinung, eine ernsthafte Entschuldigung muss die Fehler einräumen, die gemacht wurden. Das hat die Firma nicht getan, und damit die Opfer beleidigt.“
Pharmafirma entschuldigt sich nach über 50 Jahren Schwedische Contergan-Opfer wurden nie entschädigt
Björn Håkansson, der Chef des schwedischen Opferverbandes, sprach von einer wertlosen Entschuldigung. „Nach 50 Jahren kriechen sie zu Kreuze, nachdem sie in mehreren Ländern verklagt wurden“, sagte er mit Blick auf die Herstellerfirma Grünenthal. „Das hätten sie nie getan, wenn sie nicht unter Druck stünden.“
Die überlebenden 99 Contergan-Geschädigten in Schweden hätten von Grünenthal niemals eine Entschädigung oder eine Anerkennung ihres Leidens erhalten, sagte Håkansson. Allerdings hatten die schwedischen Opfer Zahlungen des heimischen Firma Astra bekommen, die das Medikament in Lizenz hergestellt und verkauft hatte.
Auch der japanische Opferverband „Sakigake“ zeigte sich von der Entschuldigung enttäuscht. „Die Zahl der Opfer wäre geringer gewesen, wenn der Konzern den Verkauf früher gestoppt hätte“, sagte Verbandschef Tsugumichi Sato. Sein Verband werde genau verfolgen, welche Verantwortung Grünenthal künftig übernehmen werde.
Lediglich FDP-Politikerin begrüßt längst überfällige Abbitte
Der Bundesverband Contergangeschädigter lehnt darüber hinaus auch das neue Contergan-Denkmal in Stolberg ab. Die Bronzestatue eines Mädchens ohne Arme und mit missgebildeten Beinen verharmlose „das schuldhafte Verhalten von Grünenthal“, erklärte der Verband kurz vor der Einweihung am Freitag.
Die FDP-Politikerin Nicole Bracht-Bendt begrüßte dagegen die Entschuldigung des Arzneimittel-Herstellers. „Diese Geste war schon lange überfällig“, erklärte die Sprecherin für Frauen und Senioren der FDP-Bundestagsfraktion am Samstag.
In Deutschland erhalten Contergan-Geschädigte eine Rente
Der Hersteller des Schlafmittels, das Anfang der 60er Jahre bei ungeborenen Kindern schwere Schäden verursachte, hatte am Freitag erstmals das Wort „Entschuldigung“ in den Mund genommen. Es sei bedauerlich, dass die Firma nicht früher auf die Opfer zugegangen sei, sagte Geschäftsführer Stock nun.
Nach langen Auseinandersetzungen wurde 1971 eine Stiftung eingerichtet und mit 200 Millionen Mark ausgestattet. Das Geld kam jeweils zur Hälfte von Grünenthal und vom Bund. Aus diesem Fonds erhalten die Geschädigten eine Rente.
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