Offener Brief: die Contergan Tragödie wird am ..........

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Daniel

Offener Brief: die Contergan Tragödie wird am ..........

#1

Beitrag von Daniel » Freitag 13. April 2012, 07:57

Christian G. Knabe, Bild und Text

Georg-Kerschensteiner-Str. 17, 81829 München, Tel.: 089/569967, mobil: 0163/2975502

E-Mail: chgknabe@t-online.de, http://www.fotoreport-web.com


Bundesfamilienministerium
Zu Händen der Ministerin
Glinkastraße 24

10117 Berlin


München, den 12. Apr. 2012


Offener Brief: die Contergan Tragödie wird am 1. Oktober 2012 55 Jahre alt



Sehr Frau Schröder!

Am 1. Oktober wird sich die Markteinführung von „Contergan“ zum 55. Mal jähren.
Vor 5 Jahren wurde die Bundesrepublik durch den Fernsehzweiteiler „Contergan“
wieder auf die größte Arzneimitteltragödie der Menschheit aufmerksam, und auch
der Bundestag versprach sich der Opfer anzunehmen - parteiübergreifend um das
Thema aus dem Parteienstreit herauszuhalten.

In den folgenden Monaten dürften die Opfer wieder Thema im Bundestag werden.
Ich nehme an, dass die ersten Ergebnisse einer Studie der Universität Heidelberg in
der nächsten Zeit den Fachgruppen in den Ministerien übermittelt werden. Ich will
dem nicht vorausgreifen, sondern Ihnen erklären, worum es eigentlich geht. Dazu ein
Beispiel, dass ich erst letztes Jahr erlebt habe:

Ich hatte mir ein neues Fahrrad gekauft und umbauen lassen. Das war sehr einfach,
denn ich hatte noch einen alten hohen Lenker, so dass man nur die Lenkstange hätte
umgedreht einbauen müssen. Sie hat einen Winkel, durch den der Lenker in der für
meine kurzen Arme passenden Höhe näher an meinem Körper gewesen wäre. Aber
der Fahrradmechaniker baute die Lenkstange „normal“ herum ein. Der Lenker war
dadurch zu weit von mir weg und zu tief. Er wollte das nicht ändern, denn das sei
„gefährlich“. Ich fuhr also erst mal so los und bekam Rückenschmerzen. Erst als ein
anderer Mechaniker die Lenkstange umdrehte, konnte ich endlich bequem Fahrrad fahren.

So, wie es mir mit dem Fahrrad erging, ergeht es den Conterganopfern seit ihrer Geburt:
man tut einfach etwas ohne genau hinzusehen. Wenn die Betroffenen dann sagen,
dass es falsch ist, bekommen die nur Ausreden zu hören, obwohl sinnvolle Dinge
möglich sind.

So haben dieses Jahr eine Frau aus Karlsruhe und ich jeweils einen Antrag auf einen
ICD-10-GM-Schlüssel für das Thalidomid-syndrom gestellt. Ein Medizinprofessor
kommentierte das folgendermaßen: „Geniale Idee, warum hat das noch keiner
gemacht?“ Und sehen Sie, diese Frage, warum das noch keiner gemacht hat, ist das
Problem, denn der Fahrradmechaniker hat mich ja auch genau beobachtet um dann
den entscheidenden Fehler zu machen. Man kann nicht an die Krankenkassen
schreiben und um Verständnis für Conterganopfer bitten, wie es die Bundesregierung
getan hat, wenn die Kassen ohne ICD-Schlüssel die Betroffenen im System nicht
erkennen können!

Betrachten Sie die Conterganopfer doch mal genauer. Kann jemand, dem nur links und
rechts zwei Fingerchen direkt aus der Schulter gewachsen sind mit Akten umgehen?
Doch wohl kaum. So ein Mensch ist sogar auf fremde Hilfe angewiesen, um auf die
Toilette zu gehen. Ein solcher Mensch wird sich davor hüten, seine eigene Meinung
zu äußern, damit er seinen Helfer nicht vergrault. Er wird schüchtern sein und still.
Andere können nach Herzenslust streiten, aber ein Conterganopfer nicht!

Das heißt im Klartext, dass die ganzen Vereine der Conterganopfer nicht mal annähernd
das tun können, was notwendig ist, weil sich die Mitglieder das nicht trauen, und weil
sie oft körperlich überfordert sind. Die denken, dass es einerseits besser sei, nichts zu
tun, weil sie dadurch möglichem Streit aus dem Weg gehen, andererseits hängen sie
sich an gängige Klischees an, denn sie glauben, da könne man nichts falsch machen.

Tatsache ist aber, dass man den Betroffenen endlich helfen muss. Es kann doch nicht sein,
dass man viele in die Grundsicherung abrutschen lässt, so dass diese nur schwer mit
einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben können. Der oder die andere wird
dann nämlich vom Staat indirekt zur Kasse gebeten. Es sollte eigentlich jedem in unserem
Land klar sein, dass Conterganopfer Menschen aus Fleisch und Blut sind, und dass man
ihnen den Wunsch auf Partnerschaft nicht verwehren darf. Der frühere Hinweis, es gäbe
ja Sozialhilfe ist wie die Lenkstange bei meinem Beispiel mit dem Fahrrad.

Ich bin übrigens ausgebildeter psychiatrischer Laienhelfer und habe vor über 20 Jahren
eine Gruppe von Angehörigen psychisch Kranker im Raum Mühldorf/Altötting gegründet.
Wenn ich höre, dass jemand behinderten Menschen die Fähigkeit zu Sexualität und
Partnerschaft abspricht, nehme ich automatisch an, dass die Person Patient in einer
psychiatrischen Klinik ist oder bald sein wird. Da ist jemand nämlich in Not. Das
entspricht meinen Beobachtungen – und ich bin damit nicht allein! In den 60`iger Jahren
wurde ganz offiziell verbreitet, Conterganopfer seien impotent oder steril, später hieß
es, wenn sie Kinder hätten, würden diese ebenfalls geschädigt sein und so weiter. Das
darf man nicht vergessen: psychisch kranke Menschen haben sich damals zu „Experten“
aufgemandelt!

Anmerkung: Menschen mit Psychosen leiden unter diffusen Ängsten. Eine Zeit lang hat
man vermutet, dass die Ursache meist in einem sexuellen Missbrauch in der Kindheit
läge. Tatsächlich verursacht die Störung selbst unkontrollierte Hormonausschüttungen,
was das sexuelle Triebverhalten stört. Krankheitsbedingt befassen sich die Patienten
oft mit ihrer Sexualität vermischt mit Verfolgungswahn. Das von mir beschriebene
Verhalten ist eine Art von Hilfeschrei, denn da kann ein Mensch mit den auf ihn
einprasselnden starken Gefühlen nicht mehr umgehen. Damals hätte mal jemand
was sagen müssen, aber das Thema „psychisch Kranke“ war noch ein Tabuthema.
Das Wissen darüber war in der Bevölkerung nicht verankert. So wurden Wahnideen
für wissenschaftliche Erkenntnisse gehalten.

Als es die Bundesregierung in den 80`iger Jahren ablehnte, eine Einkommensbeihilfe
für die Conterganopfer zu schaffen, hatte sie auch wieder falsche Berater. Obwohl,
damals wurden einige meist katholische Priester in den Zeitungen angeprangert,
weil diese sich weigerten. Menschen im Rollstuhl zu trauen. Wer da von einer
Zeitströmung spricht oder von „gesellschaftlichem Wandel“ der sich inzwischen
vollzogen hätte, irrt sich gewaltig: Menschen sind ohne Zeitströmung immer
Menschen mit all ihren Eigenheiten. Um das zu erkennen, braucht man keinen
gesellschaftlichen Wandel sondern nur den „gesunden Menschenverstand“.

Behinderte Menschen neigen im Beruf ganz allgemein dazu, sich mehr anzustrengen
als andere. Jene Conterganopfer, die noch arbeiten, leiden sehr, wollen das aber
nicht zugeben. Sie arbeiten sich zu Tode, weil sie das Geld für ihre Familien
brauchen. Sie wissen ganz genau, dass sie ihre Partner/innen verlieren, wenn die
Familie in die Grundsicherung abrutscht. Ich möchte deshalb mal einige Fragen aufwerfen:

Ist ein Mensch nur dann etwas wert, wenn er arbeitet?
Ist ein Mensch nur dann etwas wert, wenn er Familie hat?
Darf man - noch dazu genetisch gesunden Menschen das Recht verwehren Familien zu gründen?
Haben nicht auch behinderte Menschen das Recht auf Gesundheit?

Ich denke, diese Menschen haben alle Rechte und Werte wie sie Menschen nun mal haben!

Mit der Errichtung der Contergan Stiftung hat die Bundesregierung eine besondere
Verantwortung übernommen, nämlich den Opfern Thalidomid haltiger Medikamente
ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Sie ist noch dazu Haftungsnachfolger
und deshalb besonders dazu verpflichtet.

Ich habe in den letzten 5 Jahren mit vielen anderen Betroffenen gesprochen. Sie haben
mir viele traurige Geschichten erzählt. Es sind besonders viele Partnerschaften auf
traurige Weise gescheitert. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und die Tragödie
ungeschehen machen, es würde aber sehr helfen, die Betroffenen finanziell unabhängig
zu machen. Es ist viel Leid geschehen, weil das bisher nicht so war. Liebesbeziehungen
mussten aus finanziellen Gründen scheitern, viele Betroffene - oder besser die meisten
konnten nie in Frieden leben, und schon gar nicht so, wie sie es eigentlich gekonnt hätten.
Und wenn es nur darum geht, dass jemand, der an Armen und Beinen geschädigt ist, mal
eine Urlaubsreise machen kann. Die Mehrfachgeschädigten wollen auch gesehen werden!

Erstaunlich viele vierfachgeschädigte Betroffene – meist Frauen habe ein oder mehrere
Kinder. Das ist eines der Wunder, die es mitten in der Tragödie auch gibt. Das sollte aber
auch zu denken geben, angesichts der falschen Experten in den 60`iger Jahren!

Die Geschichte der Contergantragödie ist voll von Versuchen, die Betroffenen zu
„Untermenschen“ zu machen. Es gibt nun mal immer Zeitgenossen, die glauben, es ginge
ihnen besser, wenn es Menschen gibt, denen es „noch schlechter“ geht. Sie kennen sicher
die dumme Bemerkung von Eltern: „Jetzt weine nicht, es gibt Kinder, denen geht es noch
viel schlechter als dir!“ Lesen Sie dazu mal ein paar Bücher von Alice Miller, zum Beispiel
„Das Drama des begabten Kindes“, „Am Anfang war die Erziehung“ und „Du sollst nicht
merken“. Noch 2007 und 2008 hieß es ganz offiziell, dass die Conterganopfer nicht besser
gestellt werden dürften, weil dadurch andere Behinderte benachteiligt würden. Das kam
sogar vom Bundesverband der Conterganopfer. So weit kann Einschüchterung gehen, wenn
man jemand braucht um aufs Klo zu gehen! Ich selber wurde in diesem Punkt erst mit 11 Jahren
selbstständig und weiß aus leidvoller Erfahrung wovon ich rede!

Ich will diesem Brief eine teils schöne, teils traurige Mitteilung hinzufügen. Am 4. Mai beginnt
meine 6. Ausstellung in Plovdiv/Bulgarien. Ich zeige dort mal keine Zeichnungen sondern
meine Pressefotos von Menschen wie Bud Spencer, Yoko Ono oder einfachen Handwerkern.
Ich habe in Bulgarien die Ochsentour durch staatliche Galerien gemacht und durfte danach
2005 in der Nationalgalerie in Sofia ausstellen. Meine künstlerische Reputation ist wahrscheinlich
höher als die des Direktors der Münchner Kunstakademie.

Aber – und das ist das Traurige, das zählt in Deutschland nicht! Hier bin ich nur der „Behinderte“,
der „Bildchen“ macht. Wenn das ein anderer Künstler schafft, bewirft man ihn mit Angeboten für
eine Professur. Um 1981 gab das Bayerische Kultusministerium bekannt, dass es keine
Conterganopfer als Lehrer einstellen würde – auch das ist passiert. Heute bekomme ich vom
selben Ministerium bei Auslandsausstellungen schon mal ein Grußwort vom Minister. Bei meiner
ersten Ausstellung in Bulgarien 2003 bekam ich ein Grußwort des Bulgarischen Ministerpräsidenten.

Da wollen wir, dass es in China und anderswo endlich human zugeht. Da wollen wir, dass überall
auf der Welt die Menschenrechte gelten. Sollten wir da nicht mal mit gutem Beispiel vorangehen?

Die Contergan Tragödie bietet die Gelegenheit dazu. Auch das gehört dazu!

Auf der Homepage der Contergan Stiftung steht eine relativ neue Studie über Thalidomid Opfer
in anderen Ländern. Das Erschreckendste daran sind all die Länder, in denen man nicht weiß,
wie viele Opfer dort leben. Dazu gehört auch zum Beispiel die Schweiz! Den über 400 Millionen
Euro, die man bei uns für die Opfer in den letzten Jahrzehnten ausgegeben hat, stehen über
2500 Menschen gegenüber und 5 Milliarden Euro, die vor wenigen Jahren dafür ausgegeben
wurden, dass sich die Deutschen ein neues umweltverträgliches Auto kaufen konnten. Die
Summen sind relativ! 2007 wurden jährlich 15 Millionen Euro für die Conterganopfer ausgegeben
und zwar für fast 2500 Menschen. Das waren durchschnittlich 500 Euro im Monat bei einem
durchschnittlichen monatlichen Bedarf von wahrscheinlich über 2000 Euro ohne
Lebenshaltungskosten. Heute sind die Zahlungen verdoppelt, was aber immer noch nicht
dem Bedarf entspricht.

Sie sehen schon, warum ich Ihnen von meinem Fahrrad erzählt habe. Hilfe sieht anders aus,
nämlich zum Beispiel so:

Damit ein Conterganopfer von der Grundsicherung unabhängig ist, braucht es Geld für eine
genügend große Wohnung, die der Behinderung angemessen ist in einer größeren Stadt.
Setzen wir dafür 1100 Euro Warmmiete an. Dieser Mensch braucht Nahrung, Kleidung,
Versicherungen und so weiter. Setzen wir dafür weitere 700 Euro an. Das wäre nochmal
ungefähr das Doppelte von ALGII. Bei Bedarf kommt noch eine Krankenversicherung dazu.
Das Grundeinkommen eines Conterganopfers sollte also bei mindestens 1800 Euro liegen.

Rechnet man die Conterganrente hinzu, so kommt man auf 2900 Euro, wobei man bedenken
sollte, dass es bei einer Einkommensbeihilfe um den Ersatz von jenem Einkommen geht,
dass ein Betroffener erwirtschaften würde, wäre er nicht geschädigt. Die Einkommensbeihilfe
von mindestens 1800 Euro ist das unterste Niveau, wobei noch nicht klar ist, wie hoch die
Conterganrente selbst sein müsste. Hier wird hoffentlich die Heidelberger Studie mehr aussagen.

Anmerkung: Die Conterganrente ist kein Einkommensersatz sondern so was wie ein
Ausgleich für behinderungsbedingte Kosten. Aber das ist im Contergangesetz nicht definiert.
Das sollte man mal im Stiftungszweck entsprechend formulieren.

2007 haben die Conterganopfer deutlich über 3000 Euro monatlich verlangt. Sie konnten es nur
nicht begründen, denn dann hätten sie einen „Seelenstriptease“ machen müssen. So nannte
man früher die erniedrigenden Gespräche im Sozialamt. Man hat sie damals nicht ernst
genommen, wobei wir wieder bei meinem Beispiel vom Anfang mit dem Fahrrad wären.

Ich persönlich glaube auf Grund meiner Gespräche mit anderen Betroffenen, dass die Forderung
des Bundesverbandes nach einer Verdreifachung der jetzigen Conterganrente vielleicht sogar
zu niedrig angesetzt ist. Die Auswirkungen der Conterganschäden sind einfach im Einzelfall
zu schwer abzuschätzen.

Die Parteien des Deutschen Bundestages werden sich wohl oder übel bemühen müssen,
genau hinzusehen um nicht, wie jener Fahrradmechaniker einen schwerwiegenden Fehler
zu machen, der einen Menschen verletzen kann.

Mit freundlichen Grüßen,

Christian G. Knabe







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#2

Beitrag von Weissnix » Freitag 13. April 2012, 12:45

Dem Brief fehlt nur eins!

Die Millionenspende, damit er auch gelesen wird!
Tschüß
Michael

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#3

Beitrag von Sabnam » Freitag 13. April 2012, 15:25

@Weissnix


wie jetzt?

Ich bekomme die Spende fürs lesen. :lachwec :lachwec


Super!!!!!!!!!!!

Daniel

#4

Beitrag von Daniel » Freitag 13. April 2012, 16:58

Wie wenn ich den Brief lese bekomm ich von Weissnix eine Mio????

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#5

Beitrag von Weissnix » Freitag 13. April 2012, 17:41

Au weia, ist heute irgendein Feiertag, außer natürlich dem hochwichtigen Tag des Rauchmelders? Wenn nicht solltet ihr beiden euren Kaffee mal kontrollieren. :wink:

Die Million müsste Christian Knabe natürlich als Spende den Parteien rüberreichen (s. Mövenpick)
Tschüß
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#6

Beitrag von Monchen » Freitag 13. April 2012, 19:54

weissnix ich bekomme eine million :?: das ist ja toll :wink:
Gruß Monchen
Lebe jeden Tag so, als wäre es dein Letzter!

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